Tränen der Seele
Abschiede nähern sich oft leise und fast unbemerkt. In ihren mannigfachen Facetten werden sie hier in Kurzgeschichten aus unterschiedlichsten Bereichen, Menschen und Situationen variiert. Was können sie in uns anrichten? Was können sie bewirken? Was ist ihr unerklärtes Ziel? Trauer, Wut, Wehmut, Einsamkeit und Tränen der Seele sind ihre Begleiter. Vielleicht aber auch neue Einsichten und die Bereitschaft, bestimmte Dinge des Lebens zu überdenken?! Ohne Abschied kein Neuanfang. Da wird die Geschichte eines Spielers erzählt, der es nach vielen Irrwegen schafft, sich von seiner Sucht zu verabschieden. Oder die Illusion einer Teenagerliebe, die mit ungewöhnlichen Mitteln aufgelöst wird. Neben Trennungsgeschichten, Abschieden von Lebens- und Liebespartnern, einem mit einem Augenzwinkern zu betrachtetenden Krimi, Selbstmord, Unfall und ungewöhnlich endenden Liebesgeschichten, werden Abschiede von Träumen, Illusionen und Lebenssituationen erzählt. Alles verpackt in unterhaltsame, ergreifende und packende Geschichten.
Zum Schlüsselerlebnis wurde für die Autorin - Roswitha M. Bauer - folgende Geschichte, um im Alter von fünfzig Jahren endgültig Abschied von einem bis dahin eher konventionellen Leben zu nehmen, es auf neue Beine zu stellen und sich hauptberuflich der Schriftstellerei zu widmen:
"Auf dem Hühnerhof war der Hahn erkrankt. Niemand rechnete mehr damit, dass er auch am nächsten Morgen noch krähen würde. Abschied war angesagt. Die Hennen machten sich große Sorgen. Felsenfest waren sie davon überzeugt, dass die Sonne nur aufgehen würde, weil der Meister sie rufe. Der nächste Morgen aber belehrte sie eines Besseren: Der Hahn war tot, doch die Sonne ging auf wie jeden Tag! Nichts hatte ihren Lauf beeinflußt."
(Weisheit aus Persien)
Der Abschied ist ein ständiger Begleiter in unserem Leben, der nur auf seinen Einsatz wartet. Oftmals verhasst oder als vermeintliche Bedrohung über uns lauernd, ist und bleibt er trotzdem ein bestimmendes Element dieses Lebens.
Jedes Leben besteht aus Abschieden, die wir immer wieder neu erleben und zu meistern haben. Oft unvermeidbar, manchmal bewusst herbeigeführt. Der erste Gedanke, den man mit dem Begriff Abschied zwangsläufig in Verbindung bringt, ist der Tod eines Menschen und das damit verbundene wissen, dass dieser Mensch endgültig nicht mehr bei uns ist. Mit dem Verlust eines geliebten Menschen erfahren wir eine natürliche Zeit der Trauer, die gelebt und verstanden werden muss. Tränen der Seele, die versiegen müssen. Nur so kann sich das Leben, auch unter veränderten Umständen, weiter entwickeln und wird nicht auf Dauer von Resignation und Depression beherrscht.
Doch gibt es im Laufe eines Lebens noch viele andere Facetten des Abschieds, die wie ein Prozess durchlaufen werden müssen und mit ähnlichen Emotionen belegt sind. Wir empfinden Herzschmerz, die Trauer und das zeitweise Gefühl der Auswehlosigkeit ebenso, wenn wir Abschied von vertrauten Lebenssituationen, von Orten, Freunden, Sichtweisen, Gewohnheiten, Träumen und Illusionen nehmen müssen. Alle Veränderungen haben ihre eigene Melancholie. Denn das, was wir hinter uns lassen, von dem wir uns verabschieden, ist letztlich ein Teil unseres Selbst. Zuerst glauben wir in einem Gefühlschaos, durchtränkt mit unzähligen Tränen, zu versinken. Mit Verleugnung, Ablehnung, übersteigerter Verletzlichkeit und Selbstzweifeln reagieren wir. Erst wenn wir beginnen - wenn auch nur ein ganz klein wenig - gegen die Situation zu rebellieren, ist der erste Schritt zur neuen Identitätsfindung getan und wir können aufatmen.
Durchlebte Abschiede öffnen das Herz, sind eine Chance für Veränderung und das Überdenken von festgefahrenen Gedanken und Strukturen. Sie können uns reifer, reicher an Lebenserfahrung, verständnisvoller machen und das Bewusstsein für unser eigenes Lebenskonzept stärken. So ist jeder abschied auch gleichzeitig ein Motor für den Übergang zum Neuanfang. Obwohl wir wissen, dass wir durch einen Abschied immer etwas zurücklassen, das wir lieben, wir kritische Momente erleben werden und uns auf Neues, teilweise Unbequemes, einlassen müssen, sollten wir mit Zuversicht weitergehen. Sich von Dingen, Situationen oder Menschen zu verabschieden heißt auch, den Blick erneut nach vorn zu richten und Vorfreude auf Neues und Unbekanntes zu empfinden.
Jeder Abschied ist die Geburt einer Erinnerung!
Roswitha M. Bauer, München 2010