Einführungskapitel aus „Grasgrün“
Aufbruch ins All
In einer Kaskade von Wassertröpfchen zerstäubt der
Wasserfall Susesi seine Gischt. Dröhnend stürzt er in die Tiefe des Tales. Das schäumende Wasser kommt erst im Kessel zur Ruhe. Es ergießt sich in den glasklaren See, dessen Ufer von einem satten
Moosteppich gesäumt ist. Wie ein riesiger grüner Schwamm saugt das Moos die Feuchtigkeit auf. Millionen von
Wasserperlen glitzern im Schein von zwei Sonnen. Ein gewaltiger Regenbogen spannt sich schillernd
über das undurchdringliche Grün dieser Landschaft. So, als wolle er die Besonderheit dieses Tages durch seine Farbenpracht unterstreichen.
Hinter dem Schleier des Wasserfalls gähnt aus dem grünen Pflanzenmeer
eine riesige Grotte, vor der sich eine saftige Wiese ausdehnt. Es ist der
geheimnisvollste Ort des Planeten. Dort findet einmal im Jahr das größte
Ereignis Miras statt: die Berufung von sieben jungen Forschern, die von hier
aus ihre Expedition zu fernen Sternen antreten.
Jedes Jahr werden sie aus einer Gruppe von kleinen, grünen Wesen
ausgewählt. Dabei fällt die Wahl auf jene, die sich bereits auf dem eigenen
Planeten durch Einsatz und Ideen ausgezeichnet haben. Von den Meistern des Wissens sollen sie heute ihren Einsatzort im Sternenmeer erfahren und auf ihre Aufgaben vorbereitet werden.
Ist dieses Ritual beendet, werden die – nach irdischen Maßen – nur 30
cm
großen Miraner in fremde Welten geschickt, um dort Wissen zu sammeln. Soviel Wissen, dass Mira später einmal zu einem Planeten entwickelt werden kann, der das Wissen des Universums nutzt.
Für die Auserwählten ist es noch aus einem anderen Grund wichtig, eine
solche Expedition mit Erfolg abzuschließen. Wenn sie bei ihrer Rückkehr die
„Haartracht des Wissenden“ tragen, bekommen sie die Erlaubnis, eine eigene
Familie zu gründen. Sie genießen dann bei anderen Miranern das hohe Ansehen eines Forschers, der sich um seinen Planeten verdient gemacht hat.
Heute ist also wieder so ein besonderer Tag. Miraner aus allen Gegenden strömen zum großen Wasserfall, um der feierlichen Zeremonie beizuwohnen. Als sich die zweite Sonne am gleißend hellen Himmel zur ersten gesellt hat, sind die Wiesen am Rande des Wasserfalls von vielen Tausend Bewohnern Miras belagert. Männchen, Weiblein und viele Kinder fiebern dem Ereignis entgegen. Einige der Kleinen sind auf die glitschigen Steine im Fluss gekrabbelt und lassen die Beinchen ins kühle Wasser baumeln. Andere haben sich aus Lianen und Ranken Hängematten geflochten, die an großen Farnen verankert sind. Das Blattwerk schützt sie ein wenig vor den blendenden Sonnenstrahlen.
Als die sieben Meister des Wissens erscheinen, verstummen die Miraner
rund um die Wiese. Nur noch das Rauschen des Wasserfalls ist zu hören. Von der Decke der Grotte rankt sich schweres Pflanzengeflecht bis zum
Eingang herunter. Davor liegt ein mächtiger, kantiger Steinblock, der mit
großen Blättern bedeckt ist.
Die Meister des Wissens sind
prachtvoll gekleidet, jeder in der ihm
zugeordneten Regenbogenfarbe. Sorgfältig drapieren sie auf dem großen Stein sieben Silber glänzende Anzüge mit kleinen Regenbogenabzeichen auf der Brust. Daneben legen sie jeweils einen silbernen
Beutel, in dem sich ein Paar silberner Schuhe befindet, mit deren Hilfe die Forscher jede Entfernung überwinden können.
Nun ertönt, siebenmal nacheinander,
ein schriller, lauter Schrei. Das
ist das Zeichen für die ausgewählten sieben Miraner, hinter den Schleier des
Wasserfalls zu treten. Nürg, einer von ihnen, kann es nicht
mehr erwarten und springt direkt durch die Gischt auf die Wiese. Zwar ist er nun der Erste, aber dafür auch klitschnass.
Jetzt wird es ernst. Die Meister
treten hinter den Tisch und fordern die
sieben Auserwählten auf, sich in einer Reihe aufzustellen. Eindrucksvoll sehen die alten Meister
in ihren langen Gewändern aus. Ausgestattet mit der mächtigen Haartracht des Wissenden, sind ihre Köpfe in eine flammende Mähne gehüllt.
Der oberste Meister trägt Rot. Er hat
im Laufe seines Lebens bewiesen,
dass er Schaffenskraft, Energie und Ausstrahlung besitzt. Ihm zur Seite steht ein ganz in Orange Gewandeter, dessen Farbe Harmonie und Fantasie symbolisiert. Der in Gelb gehüllte Weise ist ein
geniales Organisationstalent. Deshalb wurde er zum Chef im „Zentrum des Wissens“ bestimmt. Die Farbe Grün des vierten Meisters steht für Herzlichkeit, Wärme undUnkompliziert-heit. Braucht ein Miraner
Hilfe, wendet er sich an den Träger des hellblauen Gewandes - Propheus. Er ist dafür bekannt, den „Siebten Sinn“ zu besitzen. Er kann Hellsehen und Gedanken lesen. Der in Dunkelblau gehüllte
Meister ist das Sprachtalent unter den Regenbogenträgern. Der Letzte, in Violett, ist der
Ruhigste von allen. Mit sich selbst zufrieden, unaufgeregt und bedächtig, ruht er in sich selbst. Stets weiß er Rat, ist gütig und nachsichtig zugleich. Dafür liebt ihn das Volk der
Miraner.
Der ganz in Rot gehüllte Weise beginnt mit der Einführung in die Zeremonie. Jeder der sieben Novizen bekommt seinen Forschungsauftrag auf einem Planeten. Den ersten Vieren wird ein Planet zugewiesen, den wir Erde nennen. Nach vielen vorausgegangenen Expeditionen, soll nun dieser Himmelskörper mit seinen Menschen und Tieren spezieller untersucht werden.
Weil Nürg und sein Freund Nuvo bereits in verschiedenen Tiersprachen ausgebildet sind, sollen sie das Leben der Tiere näher erforschen. Während sich dabei Nuvo der Tiere im Zoo annimmt, bekommt Nürg die Tiere des Waldes zugeteilt. Alles, was er über sie in Erfahrung bringen kann, soll er zum Aufbau des Wissens nach Mira übermitteln.
Nummer 3, Palau, wird sich mit den unterschiedlichsten Pflanzen auf der Erde beschäftigen und alles über ihre Zucht herausfinden. Nummer 4, Robu, bekommt den Auftrag, sich für einige Zeit auf einer einsamen Insel in einem großen Ozean aufzuhalten und dort seine Erfahrungen zu machen. Dort ist die Vegetation der von Mira am ähnlichsten. Nummer 5, 6 und 7 werden - jeder für sich allein - auf andere ferne Planeten geschickt. Nachdem die Aufträge verteilt sind, übergeben die Meister mit vielen guten Wünschen die Ausrüstungen.
„Achtet darauf, dass ihr sie nicht verliert, denn sonst wird es sehr schwierig, euch nach Mira zurück zu holen!“, warnt der Oberste der Meister. Die Auserwählten haben verstanden und nicken. Dann können sie gehen und jene Sachen packen, die ihnen nachgeschickt werden.
Zum Abschied geben sie sich die Hände und schreien ihren Leitspruch in das Tosen des Wasserfalls hinein:
„Wissen fassen, Wissen raffen, nur Miraner können ’s schaffen!“
Nun kann das Abenteuer beginnen.